Jacques Audiberti (1899–1965): Ein Dichter zwischen Meer, Mythos und Mensch

Jacques Audiberti war mehr als ein Schriftsteller. Er war eine Stimme - eigensinnig, schillernd, unbändig - und eine der markantesten Gestalten der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Sein Leben wie sein Werk sind tief verwurzelt in der Erde und dem Licht seiner Geburtsstadt Antibes. Dort, wo das Mittelmeer Geschichten in die Wände der Altstadt meißelt, wuchs Audiberti auf: als Sohn eines Bauunternehmers, als Träumer, als Kind mit offenen Augen und lauschendem Geist.



Poet, Romancier, Dramatiker, Journalist, Maler, Philosoph - Jacques Audiberti war ein Grenzgänger der Formen. Sein Stil: ein Rausch aus Fantasie, Witz und gedanklicher Tiefe. Seine Sprache: lyrisch, bisweilen wild, doch stets präzise im Ausdruck der inneren Welt. Er war ein Architekt des Imaginären, ein Alchimist des Wortes, ein Liebhaber der Absurdität.

Die frühen Jahre in Antibes - zwischen Schulbänken, Steinmauern und sonnengetränkten Gassen - prägten sein dichterisches Universum. Seine erste Fremdsprache war Deutsch, nicht Latein. Mathematik? Ein Graus. Und Sport? Verhasst - mit Ausnahme des Luftgewehrs auf der Kirmes. Doch gerade diese Eigenheiten, diese Abweichungen vom Erwartbaren, machten ihn empfänglich für das Ungewohnte, das Staunenswerte.



Die Stadt am Meer wurde zur Bühne seiner Imagination. Die Rue Saint-Esprit, wo er lebte, taufte er in seiner Dichtung liebevoll „Rue Amen“. Das ist konsequent! Antibes war ihm nicht nur Heimat - es war Landschaft des Herzens, Metapher der Kindheit, Echo einer ursprünglichen Kraft.




Bereits mit dreizehn verfasste er eine Rede für seinen Vater, den Maurermeister. Kurz darauf begann er als Gerichtsdiener am Handelsgericht zu arbeiten, wo sein Vater zum Laienrichter berufen war – ein seltsamer Rollentausch zwischen Ordnung und Aufbegehren. Bald erschienen seine ersten Texte in der Lokalzeitung Le Réveil d’Antibes: Gedichte, Glossen, Beobachtungen - zarte Skizzen einer Stimme, die bald unüberhörbar werden sollte.






Audiberti war eine eigenwillige Gestalt. Zwar besaß er einen Führerschein, fuhr aber nie Auto - als wolle er sich der Geschwindigkeit der Moderne entziehen. Er war von zurückhaltendem Wesen, von der Mutter behütet, den Zorn des Vaters fürchtend. Und doch - seine sonore Stimme, sein Charisma, seine Sprachgewalt machten ihn unwiderstehlich.




Von Paris aus in die Welt – und immer wieder zurück nach Antibes

Im Jahre 1925 folgte er dem Ruf Edmond Rostands nach Paris. Dort verdingte er sich zunächst als Journalist bei Le Journal, später bei Le Petit Parisien. Er berichtete über Verbrechen, schrieb Filmkritiken für Comoedia und bewegte sich durch die surrealistische Szene, ohne sich ihr je ganz zu verschreiben. Über Benjamin Péret kam er ihr nah - und blieb doch eigen.


Er heiratete Élisabeth-Cécile-Amélie Savane, eine Lehrerin aus Martinique, eine Frau von seltener Klugheit und literarischer Finesse. Sie übersetzte später George Orwells "1984" ins Französische - ein Werk, das prophetischer kaum sein könnte. Madame Audibertis drei Vornamen  setzte der Schriftsteller gar in poetisches Denkmal.





Porträt seiner beiden Töchter Jacqueline une Marie-Louise, gezeichnet von Jacques Audiberti





Sein Debüt, L’Empire et la Trappe, erschien 1930 – gefördert vom Vater. 1938 erhielt er für Race des hommes den Prix de poésie der Académie Mallarmé. In jenen Jahren traf er Paul Valéry und Jean Cocteau - Geisterverwandte im Denken und Dichten.



Als der Krieg Europa heimsuchte, kehrte Audiberti heim, nach Antibes. Dort entstanden Werke wie Rempart und La Beauté de l’amour, getragen von jener bittersüßen Melancholie, die ihn durchzog. Der Sommer gehörte der Rückkehr: Ankunft am Bahnhof, ein Hauch südlicher Brise, ein Gang durch vertraute Straßen. Er roch an der Luft, kostete Pissaladière, tauchte ein in die Düfte einer heimischen Aioli und die diskrete Subtilität eines Kürbisgratin oder einer lauwarmen Ratatouille, so als nähre ihn die Stadt nicht nur kulinarisch, sondern geistig.

 


Der Abhumanismus – eine Philosophie jenseits des Menschen

Gemeinsam mit dem Künstler Camille Bryen entwarf Audiberti Ende der 1940er Jahre eine neue Sicht auf den Menschen: den Abhumanismus. Eine Philosophie ohne System - mehr Gefühl als Gedanke, mehr Zweifel als Dogma. Der Mensch, so der Tenor, sei nicht das Maß aller Dinge, sondern nur ein Element des Kosmos - zweifellos das aktivste, aber nicht das wichtigste.

Audiberti beim Malen,
Zeichnung von Hugo Cleis


Im Jahre 1952 veröffentlichten sie gemeinsam L’Ouvre-boîte, ein schillerndes Werk zwischen Science-Fiction, Dialog und Traum. Ein Schriftsteller und einem Maler sprechen in ein „Atomophon“, reisen in die absurde Welt, spielen mit Erzählformen, mit Identitäten, mit Sinn und Unsinn. Das Buch ist ein Abenteuer - literarisch wie existenziell.

Abhumanismus ist, was zurückbleibt, wenn der Mensch sich selbst überdrüssig wird. Eine Welt „ohne den Menschen, den wir kennen“ - roh, unberührt, vor aller Kategorisierung. Ein Gedankenspiel, eine Vision, vielleicht eine Warnung.





Ein Leben voller Widersprüche

Audiberti war ein Mann der Extreme: Lachen und Weinen, Leiden und Mitleiden – nichts halbherzig. Politisch war er nicht zu greifen. Er war befreundet mit dem Trotzkisten Péret ebenso wie mit dem Faschisten Drieu La Rochelle. Er misstraute Ideologien, liebte aber den Gedanken, der Mensch könne durch Politik verwandelt werden – zum Besseren.


Deutsche Ausgabe des Romans 
Les tombeaux ferment mal, 1963 in Paris bei Gallimard erschienen, und ein Jahr später von Stahlberg verlegt.





Was bleibt von Audiberti? In einer Welt, die sich rasant gewandelt hat, scheinen seine Texte wie aus einer anderen Zeit - und doch sprechen sie zu uns. Er war kein Sartre, kein Camus - keine klare Botschaft, kein moralischer Imperativ. Doch seine Stimme war authentisch, aus dem Süden, aus Antibes, aus jenem Mittelmeerraum, der so viele Götter geboren hat und so viele Dichter.



Er mochte Warten auf Godot von Samuel Beckett nicht, sah in Jean-Paul Sartre wohl einen Rivalen, eifersüchtig. Zwischen Fatalismus und Freiheit suchte er jenen dritten Weg - den poetischen, den paradoxen. Gibt es ihn noch, heute, in dieser zersplitterten Gegenwart?

 


Späte Ernte und bleibender Glanz

Zwischen 1946 und 1952 blühte Audiberti auf. Seine Dramen, Romane, Gedichte wurden veröffentlicht, ausgestellt, inszeniert. 22 Romane, zehn Gedichtbände, 30 Theaterstücke – ein Opus voller Farben, Stimmen und Schatten.



Im Jahre 1953 holte ihn François Truffaut zu den Cahiers du Cinéma. 1962 wurde sein Stück La Fourmi dans le corps an der Comédie-Française uraufgeführt - ein Ereignis, ein Aufruhr. Jacques Baratier verfilmte La Poupée - Audiberti war selbst an der Produktion beteiligt.


Zu den bedeutendsten Werken zählen La fin du monde (1941), das Theaterstück Quoat-Quoat (1946) und La Poupée (1956). 1964 wurde ihm der Grand Prix National des Lettres sowie der Prix des Critiques verliehen - späte Ehrung für ein ungebändigtes Genie.



Jacques Audiberti starb am 10. Juli 1965 in Paris. Claude Nougaro, sein Freund, schrieb ihm zu Ehren das Lied Chanson pour le maçon - eine Hommage an den Vater und den Sohn. Sein Stil, seine Denkweise, sein Humor - all das lebt fort, nicht nur in Büchern, sondern auch in der Luft von Antibes, in den alten Mauern...


Der Literaturpreis Grand Prix Littéraire de la Ville d’Antibes Jacques Audiberti, zeichnet seit 1989 literarische Werke und Autoren unter mediterranem Einfluss aus, ebeneso seit 2020, Le Prix Jeune Audiberti, der sich an Autoren unter 26 wendet, das Alter als Jacques Audiberti fortging, um sein Glück in Paris zu suchen.




In Antibes trägt seit 1973 das Gymnasium seinen Namen. Dort feiert man ihn, liest ihn, erinnert sich. Denn wer einmal mit Audiberti sprach – durch seine Texte, durch seine Bilder -, wird seine Stimme nicht mehr vergessen.


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