Neugierig, temperamentvoll, humorvoll, gebildet und begabt. Geschichtenerzähler, Stückeschreiber, Filmemacher, Erzähler seines Lebens. Genie der Freundschaft, Heimatdichter, Produzent, Filmindustrieller, Erfinder, Millionär, Glückskind. Seine steile Karriere entfachte sich weit entfernt von seiner Heimat, in einer europäischen Hauptstadt. Nicht nur die Provence, auch die Côte d’Azur hat er nachhaltig geprägt. Vor allem Monaco und La Gaude spielten in seinem letzten Lebensquartal eine Hauptrolle, Cannes und Antibes waren ebenfalls Stationen. Um wen es geht? Marcel Pagnol.
Sein Leben und sein Werk sind nicht zu trennen. Seine Theaterstücke, Filme und Bücher zeigen Marseille und die Provence, die Menschen und ihr Lebensgefühl. Er schuf sein Werk nach dem Selbsterlebten, aus dem eigenen Lebenszusammenhang heraus mit Freunden, die ihn teilweise jahrzehntelang begleiteten. Werk ist ein großes Wort. Pagnol schrieb Theaterstücke, machte Filme, verfasste Autobiographisches, drei Romane und eine Novelle. Das klingt vielleicht schon nicht mehr so gewaltig. Aber dahinter steckt trotzdem mehr, nämlich eine außerordentliche Begabung zum Erfolg, ein Talent für Freundschaft und große Erzählkunst.
Das Geburtshaus von Marcel Pagnol in Aubagne. Pagnol im Jahre 1931, 1948 und mit seiner Frau Jacqueline 1955 in La Gaude. |
Geboren am 28. Februar 1895 in Aubagne bei Marseille, aufgewachsen in der südfranzösischen Hafenstadt als Sohn eines Volksschullehrers, der seinen Bildungsehrgeiz auf ihn übertrug, ihm den Besuch des Gymnasiums und das anschließende Lehrerstudium in Aix-en-Provence ermöglichte, kannte Pagnol schon als junger Erwachsener nur ein Ziel: Er wollte ein berühmter und womöglich reicher Dichter werden. Sein Vorbild war Edmond Rostand, der Autor des Cyrano de Bergerac. Aus Marseille stammend, stürmte er im Alter von 29 Jahren mit diesem Klassiker die Pariser Theaterbühnen und wurde wenige Jahre später zum Mitglied der Académie Française gewählt. Ihm wollte es Pagnol nachtun. Aus damaliger Sicht war das der ganz normale Größenwahn eines ansonsten humorvollen, sympathischen und zur Freundschaft begabten Achtzehnjährigen. Rückwirkend war es ein Programm, ein Plan den Pagnol eindrucksvoll in die Tat umsetzte.
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Marcels Topazette : das provenzalische Dreiliterauto
1955 wurde Marcel Pagnol zum Präsidenten der Filmfestspiele von Cannes ernannt. In diesem Jahr wurde zum ersten Mal die „Palm d’Or“ verliehen, inspiriert vom Stadtwappen wurde sie von der Künstlerin Lucienne Lazon geschaffen. Prämiert wurde der amerikanische Regisseur Delbert Mann für seinen Film „Marty“. Das passt zu Pagnol : Ein italienischer Metzger und übrig gebliebener Junggeselle. Er trifft die Volksschullehrerin Clara, und trotz aller Wirren und Intrigen, dem Widerstand der Gesellschaft, der Freunde, der Familie, findet das Paar zusammen.
Filmfestival Cannes 1955 unter Präsidentschaft von Marcel Pagnol |
Zu jener Zeit begab er sich nach Cannes mit seinem Amischlitten, einem Packard Clipper mit 8-Zylinder-Motor. Autonarr war er nicht wirklich, schon eher Mechaniker. Und gleichzeitig Erfinder. Er hatte sogar ein Patent angemeldet, für einen „Abschraubbolzen“, den er "boulon indéboulonnable" nannte. Das wissen nicht viele.
Skizze des Abschraubbolzens und das einzige Foto des Pagnol-Autos Topazette |
Marcel Pagnol war ein einfacher Mann. Jeden Morgen setzte er sich zur gleichen Zeit vor eine leere Seite seines Notizbuchs, tauchte seinen Füller in violett-blaue Tinte und schrieb, mehrere Stunden lang. Das war ein Ritual.
So entwarf er auch ein besonderes, etwas anderes Auto. Es sollte billig sein, nur 3000 Francs kosten. Drei Sitze, drei PS, drei Räder, drei Liter auf 100 km. Er nannte es „Topazette“. Nein, das ist kein Unsinn, Fotos aus dem Familienarchiv beweisen das. Mitte der Dreissiger Jahre fertigte er ein erstes Exemplar in der Werrkstatt seiner Filmstudios. Er hatte Großes vor, eine Autofabrik in Marseille wollte er gründen, den französischen Markt erobern. Doch die Topazette kam nicht weit. Schon die erste Ausfahrt im Parc Borely oberhalb des Prado von Marseille war ein Desaster.
Schüler aus Aubagne bauten mit ihrem Lehrer M. Mebrouk im Jahre 2017 die Topazette nach |
2017 bauten Schüler der Fachoberschule Lycée Professionelle Gustave Eiffel von Aubagne das Fahrzeug nach. Sie arbeiteten verbissen und unaufhörlich, drei Monate lang. Die Topazette fährt dann tatsächlich. Heute steht das Auto stolz in der Werkstatt des Lycée Eiffel.
Marcel Pagnol hätte das gefallen. Seine Theaterfigur Topaze war ja auch Lehrer. Ein Mann mit tadellosem Bürgersinn und bescheidenen Gehalt, bis er ungerechterweise entlassen wurde...
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Wie wird man als Autor berühmt? Nicht mit Gedichten in klassischem Versmaß. Auch nicht mir intellektueller Prosa. Man musste die große Vergnügungsindustrie bedienen, man musste fürs Theater schreiben. Der Autor war an jeder Aufführung seines Stücks prozentual beteiligt. Sehr erfolgreiche Stücke konnten mehrere hundert Aufführungen erreichen. Ein Hit, und man hatte es geschafft. 1922 kam Pagnol als Hilfslehrer nach Paris. Er hatte bis dahin ein paar Gedichte geschrieben, ein wenig Prosa, hatte in Marseille eine kleine Literaturzeitschrift gegründet, aber noch nichts veröffentlicht. Nobody aus der Provinz hatte jedenfalls die Absicht, Paris zu erobern.
Er setzte seinen Charme ein, schaffte sich Freunde, baute Beziehungen auf und arbeitete beharrlich. Drei Jahre später wurde sein erstes Stück aufgeführt, 1926 hatte er mit "Jazz" einen Achtungserfolg. Ein Jahr später kam mit Topaze, einer Satire über das Karrierestreben, der Durchbruch, allerdings nicht in Frankreich, sondern in Berlin. Das Stück wurde 1927 in Deutschland am Renaissance-Theater in Berlin-Charlottenburg aufgeführt und war ein Riesenerfolg. So kam es in der darauffolgenden Saison zu einer Inszenierung am Théâtre des Varietés in Paris. Es feierte mit mehr als achthundert Aufführungen in der französischen Hauptstadt einen außergewöhnlichen Erfolg. Hunderte und aberhunderte Aufführungen folgten in französischen Provinzstädten, und selbst eine internationale Tournee wurde unternommen. Überall applaudierte das Publikum begeistert, überschüttete Pagnol mit Standing Ovations.
Schnell folgten die zwei Stücke, die ihn dann tatsächlich reich und weltberühmt machten: Marius und Fanny.
Was waren das für Stücke? Eine junge Muschelverkäuferin wird von einem jungen Barkeeper und einem senilen, aber reichen Kaufmann umworben. Verwechslungen, Verwirrungen, Irrungen Herz, Schmerz und Liebe. Marseiller Lokalkolorit, Hafenromantik und Kneipenszenen. Komödie, Boulevardtheater. Das sieht nach Berechnung aus. Ein gut nachgekochtes Erfolgsrezept, aber keine Dichtung. Das ist der Vorwurf, den ihm die intellektuelle Kunstszene fortan zwischen den Zeilen machen wird, der ihn zum Film bringt und den klassisch Gebildeten lebenslang schmerzt. Er übersetzt Vergils Bucolica und Shakespeares Sommernachtstraum, er schreibt ein anspruchsvolles Stück über den Apostel Judas. Umsonst, die Intellektuellen werden ihn nicht akzeptieren.
Pagnolesque Boules-Szene : Santons aus Aubagne |
Trotzdem ist an diesem Vorwurf nichts dran. Er beruht ja auch nur auf einem formalen Argument: Pagnol beschreibt Triviales und er hat Erfolg damit. Der Vorwurf lautet nicht: Pagnol schreibt trivial. Pagnol beschreibt Liebe und Leid kleiner Leute. Er beschreibt sie mit Humor und Wahrhaftigkeit. Seine kleinen Leute sind Charaktere. Mit Humor werden ihre Schwächen bloßgelegt. Die Zuschauer und Leser lachen über sie, wissend, dass es auch ihre eigenen sind. Es ist ein ständiges Augenzwinkern in Pagnols Geschichten. Und wenn es dann zur Sache geht, wenn Tod und Schmerz und Elend verantwortet werden müssen von den Bösewichten, dann gibt es auch immer nachvollziehbare Gründe für deren Tun und es gibt die Mitschuld der anderen. Nirgends wird schwarzweiß gezeichnet, in gut und böse aufgeteilt, werden spießbürgerliche Moral- und Tugendtafeln aufgestellt. Pagnols Werk ist von einer Botschaft durchdrungen: Achtet die Menschenwürde!
Noch ein anderes hebt Pagnol weit über das Boulevardeske, Triviale hinaus, die Magie seiner Sprache. In den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts beginnt er seine Memoiren zu veröffentlichen und sie haben den gleichen überwältigenden Erfolg wie seine Theaterstücke in den Dreissigern. Heute gehören sie zum Kanon französischer Schullektüre. Zusammen mit dem grossen Heimatroma Manon des sources verblüffen sie durch die Bildhaftigkeit ihrer Sprache. Unaufdringlich, ohne Wortergüsse und -kaskaden malt er mit iht Bilder seiner Heimat und seiner Jugend. Er lässt den Leser visuell teilhaben an seinen Erlebnissen. Wenn er die Berge bei Aubagne, den Marseiller Schulhof, das Ferienhaus beschreibt, entstehen Landschaften und Räume vor dem inneren Auge des Lesers, er wird zum Augenzeugen von Orten und Ereignissen. Worüber Pagnol auch spricht, es vergegegenständlicht sich, wird sinnlich erfahrbar. Diese Bildkraft macht Pagnols Memoiren zum spannenden und anrührenden Zeugnis einer vergangenen Epoche und – für die Franzosen – zum symphatischen Erbstück ihrer Kultur.
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Marcel Pagnol und die Côte d’Azur
Zu Beginn des 1. Weltkriegs wurde Marcel Pagnol mobilisiert und dem 163. Infanterieregiment in Nizza zugewiesen. Das war kurz nach seinem Abitur, und wenige Monate nach der Gründung seiner Literatur- und Theater-Zeitschrift „Fortunio“, dem Vorläufer des bekannten Marseiller Kulturblattes „Cahiers du Sud“ zu deren Autoren auch Albert Camus zählte. An die harte Front musste Pagnol allerdings nicht, da er schon im Januar wegen schwächlicher Gesundheit aus dem Dienst entlassen wurde.
1942 drängte die von Goebbels in Frankreich gegründete Filmgesellschaft Continental Films Marcel Pagnol zur Zusammenarbeit, doch zog er es vor, sich an die Côte d’Azur abzusetzten, zunächst nach Peymeinade in der Nähe von Grasse. Er logierte auch an anderen Orten, darunter kurz im Fontmerle-Viertel von Antibes in einer Villa zwischen dem Chemin de Vallauris und Chemin Longo Maï. „Longo Maï“ ist ein altprovenzalischer Gruß, übersetzt „Lange noch soll es so bleiben“.
Provence-Idylle in Antibes : Chemin Longo Maï |
Die Grauen der Kriegszeiten waren hier am milden Mittelmeer noch weit weg. Um sich abzulenken unternahm er Ausflüge, in die Berge nach Thorenc, wo er gerne in der Dorfwirtschaft zum Essen ging, und immer öfters nach Monaco. Auf dem Rückweg von einer Stippvisite des monegassischen Fürstentums entdeckte er in La Gaude ein sanft hügeliges Anwesen, die Domaine de l'Étoile. Er durchstreift das weitflächige Gelände mit herrlichen Olivenbäumen und einem stattlichen Baumbestand. Es stand zum Verkauf. Marcel war in das provenzalische Landhaus aus dem 18. Jahrhundert mit seinen verschachtelten Nebengebäuden vernarrt. Es gab sogar einen alten Brotbackofen. Das Geschäft wurde rasch abgeschlossen, und um die Zeit totzuschlagen, beschloss Marcel Pagnol Nelken anzubauen. Er stellte zahlreiches Personal ein, und besorgte vier seiner Bühnenarbeiter und einem Kameramann Passierpapiere, damit sie dem Arbeitsdienst entkamen.
Pagnol Ausstellung im Musée Peynet in Antibes, 2016
Das war Pagnols Vorlage des Ugolin. Seine Frau Jacqueline erklärte später: „Er war ein Bauer, der bei uns arbeitete. Er redete mit seinen Nelken, er beschimpfte sie, wenn sie nicht schnell genug wuchsen.“
Mit Monaco bestanden besondere Bande, eine wahre Freundschaft verband den Autor der Marseiller Trilogie mit Prinz Rainier. 1947 ernannte Prinz Rainers Vater Marcel Pagnol zum „Berater des Fürstentums“. Seine Stücke wurden regelmässig in Monte-Carlo aufgeführt. An der Krönung Prinz Rainier am 9. Mai 1950 nahm Pagnol teil, ebenso an der Beisetzeung von Louis II. einige Tage später.
Briefmarke zu Ehren von Marcel Pagnol, Foto Pagnols von 1949 im Garten seines monegassischen Anwesens |
Im Sommer des gleichen Jahresschlug Rainier dem provenzalischen Autor vor, Konsul von Monaco in Portugal zu werden, ganz überraschend. Doch Pagnol hasste es mit dem Flugzeug zu reisen. Für diesen Posten bräuchte er nicht nach Portugal zu reisen, versicherte der monegassische Regent. Ein Jahr später erwarb er die Villa „La Lestra“, wo Marcel und Jacqueline Pagnol gute zwei Jahre lebten, bis die Tochter des Paares im Krankenhaus von Monaco verstarb, plötzlich und unerwartet. Es waren „unvergessliche Sorgen“, wie Pagnol diese Tage beschrieb. Jacqueline und Marcel verliessen die La Lestra für immer.
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Pagnols Visualität erklärt, warum es ihn zum Theater zog. Er wollte sehen, was er geschrieben hatte. Er wollte es lebendig, seine Fantasie Wirklichkeit werden lassen. Er wollte zaubern. Im Mai 1930 sieht dann Pagnol in London den ersten Tonfilm. Ein Urerlebnis! Pagnol weiß sofort: Der Tonfilm ist sein Medium. Ist ein Theaterstück geschrieben wird es dem Autor aus der Hand genommen. Schauspieler, Bühnenbildner, Regisseure, Intendanten und Publikum verändern es. Der Film einmal gedreht, bleibt immer gleich. Und welche Möglichkeit er bietet: Nahaufnahmen, Schnitt, Außenaufnahmen, Schuss-Gegenschuss, emotionales Sprechen. Der Tonfilm kann die perfekte Illussion der Wirklichkeit erzeugen. Wer ihn beherrscht, kann wirklich zaubern.
Pagnol setzt sofort alles daran, das Medium zu erobern, so wie er Paris erobert hatte. Er propagiert in Zeitungartikeln den Tonfilm und macht sich die gesamte Theaterszene und die Anhänger des Stummfilms zu Feinden. Er freundet sich mit dem Chef der französischen Paramount-Filiale an, geht auf dem Filmgelände ein und aus, stürzt sich wiss- und lernbegierig auf alle Einzelheiten des Produktionsprozesses von der Technik bis hin zum Vertrieb und kann schon 1931 unter den Fittichen des Hollywood-Unternehmens als Drehbuchautor, Koregisseur und Koproduzent Marius verfilmen. Zwei Jahre später gründet er eine eigene Produktionsfirma, wieder einige Jahre später besitzt er ein eigenes Filmgelände in Marseille, Werkstätten, Labors, Vertrieb und einige Kinos. Der ganze Produktionsprozess liegt in der Hand Pagnols. Er ist der große Zauberer und der Erfolg gibt ihm recht. Sein „Sprachkino“ – heute: Autorenfilm – wird das erklärte Vorbild für die Nouvelle Vague-Filme der 60er Jahre, für Chabrol und Truffaut.
Seine Filme haben Pagnol richtig reich gemacht. Er wird 1946 als erster Filmregisseur in die Académie Française gewählt. Er hat sein Vorbild Eugène Rostand eingeholt und übertroffen. Der grosse Filmregisseur und Volksschriftsteller Marcel Pagnol ist vor 50 Jahren, am 18. April 1974 gestorben, an Krebs erkrankt.
Was bleibt? Seine Bücher. Und wer will, kann in seinen Büchern die Provence lesen.
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