Jacques Audiberti war mehr als ein
Schriftsteller. Er war eine Stimme - eigensinnig, schillernd, unbändig - und
eine der markantesten Gestalten der französischen Literatur des 20.
Jahrhunderts. Sein Leben wie sein Werk sind tief verwurzelt in der Erde und dem
Licht seiner Geburtsstadt Antibes. Dort, wo das Mittelmeer Geschichten in die
Wände der Altstadt meißelt, wuchs Audiberti auf: als Sohn eines
Bauunternehmers, als Träumer, als Kind mit offenen Augen und lauschendem Geist.
Poet, Romancier, Dramatiker, Journalist,
Maler, Philosoph - Jacques Audiberti war ein Grenzgänger der Formen. Sein Stil:
ein Rausch aus Fantasie, Witz und gedanklicher Tiefe. Seine Sprache: lyrisch,
bisweilen wild, doch stets präzise im Ausdruck der inneren Welt. Er war ein
Architekt des Imaginären, ein Alchimist des Wortes, ein Liebhaber der
Absurdität.
Die frühen Jahre in Antibes - zwischen
Schulbänken, Steinmauern und sonnengetränkten Gassen - prägten sein
dichterisches Universum. Seine erste Fremdsprache war Deutsch, nicht Latein.
Mathematik? Ein Graus. Und Sport? Verhasst - mit Ausnahme des Luftgewehrs auf
der Kirmes. Doch gerade diese Eigenheiten, diese Abweichungen vom Erwartbaren,
machten ihn empfänglich für das Ungewohnte, das Staunenswerte.
Die Stadt am Meer wurde zur Bühne seiner
Imagination. Die Rue Saint-Esprit, wo er lebte, taufte er in seiner Dichtung
liebevoll „Rue Amen“. Das ist konsequent! Antibes war ihm nicht nur Heimat - es
war Landschaft des Herzens, Metapher der Kindheit, Echo einer ursprünglichen
Kraft.
Bereits mit dreizehn verfasste er eine Rede
für seinen Vater, den Maurermeister. Kurz darauf begann er als Gerichtsdiener
am Handelsgericht zu arbeiten, wo sein Vater zum Laienrichter berufen war – ein
seltsamer Rollentausch zwischen Ordnung und Aufbegehren. Bald erschienen seine
ersten Texte in der Lokalzeitung Le Réveil d’Antibes: Gedichte, Glossen,
Beobachtungen - zarte Skizzen einer Stimme, die bald unüberhörbar werden
sollte.
Audiberti war eine eigenwillige Gestalt.
Zwar besaß er einen Führerschein, fuhr aber nie Auto - als wolle er sich der
Geschwindigkeit der Moderne entziehen. Er war von zurückhaltendem Wesen, von
der Mutter behütet, den Zorn des Vaters fürchtend. Und doch - seine sonore
Stimme, sein Charisma, seine Sprachgewalt machten ihn unwiderstehlich.
Von Paris aus in die Welt – und immer
wieder zurück nach Antibes
Im Jahre 1925 folgte er dem Ruf Edmond Rostands nach
Paris. Dort verdingte er sich zunächst als Journalist bei Le Journal, später
bei Le Petit Parisien. Er berichtete über Verbrechen, schrieb Filmkritiken für
Comoedia und bewegte sich durch die surrealistische Szene, ohne sich ihr je
ganz zu verschreiben. Über Benjamin Péret kam er ihr nah - und blieb doch
eigen.
Er heiratete Élisabeth-Cécile-Amélie Savane, eine Lehrerin aus Martinique, eine Frau von seltener Klugheit und literarischer Finesse. Sie übersetzte später George Orwells "1984" ins Französische - ein Werk, das prophetischer kaum sein könnte. Madame Audibertis drei Vornamen setzte der Schriftsteller gar in poetisches Denkmal.
Porträt seiner beiden Töchter Jacqueline une Marie-Louise, gezeichnet von Jacques Audiberti
Sein Debüt, L’Empire et la Trappe, erschien
1930 – gefördert vom Vater. 1938 erhielt er für Race des hommes den Prix de
poésie der Académie Mallarmé. In jenen Jahren traf er Paul Valéry und Jean
Cocteau - Geisterverwandte im Denken und Dichten.
Als der Krieg Europa heimsuchte, kehrte
Audiberti heim, nach Antibes. Dort entstanden Werke wie Rempart und La Beauté
de l’amour, getragen von jener bittersüßen Melancholie, die ihn durchzog. Der
Sommer gehörte der Rückkehr: Ankunft am Bahnhof, ein Hauch südlicher Brise, ein
Gang durch vertraute Straßen. Er roch an der Luft, kostete Pissaladière,
tauchte ein in die Düfte einer heimischen Aioli und die diskrete Subtilität
eines Kürbisgratin oder einer lauwarmen Ratatouille, so als nähre ihn die Stadt
nicht nur kulinarisch, sondern geistig.
Der Abhumanismus – eine Philosophie
jenseits des Menschen
Gemeinsam mit dem Künstler Camille Bryen
entwarf Audiberti Ende der 1940er Jahre eine neue Sicht auf den Menschen: den
Abhumanismus. Eine Philosophie ohne System - mehr Gefühl als Gedanke, mehr
Zweifel als Dogma. Der Mensch, so der Tenor, sei nicht das Maß aller Dinge,
sondern nur ein Element des Kosmos - zweifellos das aktivste, aber nicht das
wichtigste.
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Audiberti beim Malen, Zeichnung von Hugo Cleis |
Im Jahre 1952 veröffentlichten sie gemeinsam
L’Ouvre-boîte, ein schillerndes Werk zwischen Science-Fiction, Dialog und
Traum. Ein Schriftsteller und einem Maler sprechen in ein „Atomophon“, reisen in die absurde Welt, spielen mit
Erzählformen, mit Identitäten, mit Sinn und Unsinn. Das Buch ist ein Abenteuer -
literarisch wie existenziell.
Abhumanismus ist, was zurückbleibt, wenn
der Mensch sich selbst überdrüssig wird. Eine Welt „ohne den Menschen, den wir
kennen“ - roh, unberührt, vor aller Kategorisierung. Ein Gedankenspiel, eine
Vision, vielleicht eine Warnung.
Ein Leben voller Widersprüche
Audiberti war ein Mann der Extreme: Lachen und Weinen, Leiden und Mitleiden – nichts halbherzig. Politisch war er nicht zu greifen. Er war befreundet mit dem Trotzkisten Péret ebenso wie mit dem Faschisten Drieu La Rochelle. Er misstraute Ideologien, liebte aber den Gedanken, der Mensch könne durch Politik verwandelt werden – zum Besseren.
Was bleibt von Audiberti? In einer Welt,
die sich rasant gewandelt hat, scheinen seine Texte wie aus einer anderen Zeit -
und doch sprechen sie zu uns. Er war kein Sartre, kein Camus - keine klare
Botschaft, kein moralischer Imperativ. Doch seine Stimme war authentisch, aus
dem Süden, aus Antibes, aus jenem Mittelmeerraum, der so viele Götter geboren
hat und so viele Dichter.
Er mochte Warten auf Godot von Samuel Beckett nicht, sah in Jean-Paul Sartre wohl einen Rivalen, eifersüchtig. Zwischen Fatalismus und Freiheit
suchte er jenen dritten Weg - den poetischen, den paradoxen. Gibt es ihn noch,
heute, in dieser zersplitterten Gegenwart?
Späte Ernte und bleibender Glanz
Zwischen 1946 und 1952 blühte Audiberti
auf. Seine Dramen, Romane, Gedichte wurden veröffentlicht, ausgestellt,
inszeniert. 22 Romane, zehn Gedichtbände, 30 Theaterstücke – ein Opus voller
Farben, Stimmen und Schatten.
Im Jahre 1953 holte ihn François Truffaut zu den
Cahiers du Cinéma. 1962 wurde sein Stück La Fourmi dans le corps an der
Comédie-Française uraufgeführt - ein Ereignis, ein Aufruhr. Jacques Baratier
verfilmte La Poupée - Audiberti war selbst an der Produktion beteiligt.
Zu den bedeutendsten Werken zählen La fin du monde (1941), das Theaterstück Quoat-Quoat (1946) und La Poupée (1956). 1964 wurde ihm der Grand Prix National des Lettres sowie
der Prix des Critiques verliehen - späte Ehrung für ein ungebändigtes Genie.
Jacques Audiberti starb am 10. Juli 1965 in
Paris. Claude Nougaro, sein Freund, schrieb ihm zu Ehren das Lied Chanson pour
le maçon - eine Hommage an den Vater und den Sohn. Sein Stil, seine Denkweise,
sein Humor - all das lebt fort, nicht nur in Büchern, sondern auch in der Luft
von Antibes, in den alten Mauern...
Der Literaturpreis Grand Prix Littéraire de
la Ville d’Antibes Jacques Audiberti, zeichnet seit 1989 literarische Werke und
Autoren unter mediterranem Einfluss aus, ebeneso seit 2020, Le Prix Jeune
Audiberti, der sich an Autoren unter 26 wendet, das Alter als Jacques Audiberti
fortging, um sein Glück in Paris zu suchen.
In Antibes trägt seit 1973 das Gymnasium
seinen Namen. Dort feiert man ihn, liest ihn, erinnert sich. Denn wer einmal
mit Audiberti sprach – durch seine Texte, durch seine Bilder -, wird seine
Stimme nicht mehr vergessen.
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