Vallauris : Der irdene Topf

Eine alte Hexe hatte einen Sohn. Dieser war seit kurzer Zeit verheiratet und das Paar bewohnte zusammen mit ihr ein uraltes Haus. Jeden Abend um dieselbe Stunde verließ die alte Mutter die Wohnstube und ging in ihre Kammer. Die beiden Frischvermählten wussten einfach nicht, wozu und warum.



Das ist doch eigenartig“, dachte sich die Schwiegertochter und machte sich drauf und daran, der Alten heimlich nachzuspionieren. Und dabei hörte sie eines  Abends, wie die Hexe murmelte: „Ougné, ougné pignatan, Pouarta me douna é aoutré san!“ Das war provenzalisch und hieß übersetzt: „Gesalbter, gesalbter, irdener Topf, bring mich dahin, wo die anderen sind!“

Und im selben Moment, indem die Schwiegertochter den Spruch hörte, riss sie geschwind die Tür auf, doch zu ihrem Erstaunen war die Kammer leer.

Sie ist verschwunden!“, rief sie aus und dabei dachte sie, dass sie den Zauberspruch auch ausprobieren möchte. So sagte sie also: „Ougné, ougné pignatan, Pouarta me douna é aoutré san!“

Und flugs befand sie sich im Gipfel eines Nussbaumes worunter eine Anzahl Hexen ihren wilden Tanz zelebrierten. Unter diesen Hexen befand sich doch tatsächlich auch ihre eigene Schwiegermutter. Die junge Frau verhielt sich ganz still und lauschte den Worten der Hexen. Nachdem sie Rat gehalten hatten, nahm der Hexenmeister eine befehlende Stimme an und sagte zu ihrer Schwiegermutter: „Morgen wirst du dich in einen mächtigen Wurzelstrunk verwandeln und du legst dich quer  über den Weg, worauf dein Sohn aufs Feld reiten wird. Der Maulesel wird stürzen und sein Reiter sich dabei das Genick brechen.“

Die angesprochene Alte antwortete nicht, war sie doch dazu verpflichtet bedingungslos das zu tun, was ihr angeordnet wurde. Der Hexenmeister fügte mit grausiger Stimme hinzu: „Ich will auch, dass der Königssohn stirbt. Er soll von einer schlimmen Krankheit befallen werden und daran schwächlich und elendig zugrunde gehen.“

Wenn aber eine von uns ihn heilen möchte“, fragte eine der Hexen, „was muss sie tun?“

Das wird keine von euch tun“, antwortete der Hexenmeister, „doch werde ich euch schon das einzige Gegenmittel verraten.“ So zählte er eine Reihe von Kräutern auf, woraus das Heilmittel zu brauen sei. Unter den Hexen herrschte grausiges Schweigen bis schließlich der Hexenmeister lauthals brüllte: „Der Hexentanz ist vorüber und alle werden wir verschwinden.“ Und mit einem Zischen, Rauchen und Blitzen zischten die Hexen und ihr Meister in alle Richtungen davon. Die Schwiegertochter fand sich alleine zurück in ihrem Baum. So murmelte sie erneut den Spruch: „Ougné, ougné pignatan, Pouarta me douna é me san!“ Das heißt: „Gesalbter, gesalbter, irdener Topf, bring mich dahin, wo die meinen sind!“ Auf diese Weise gelangte sie zurück in ihr Zuhause.

Am folgenden Tag folgte sie ihrem Mann auf den Weg zum Feld: „Du reitest auf dem Maulesel und ich führe ihn und trage auch die Hacke“, befohl sie ihm. Der Mann verstand seine Frau zwar nicht, doch ließ er sie gewähren. Nur fragte er sich innerlich, ob sie verrückt geworden sei. Denn entlang des gesamten Weges schlug sie sämtliche Wurzeln aus. Als sie schließlich eine übergroße Wurzel erblickte schlug sie diese mit einem kräftigen Hieb entzwei. Die alte Hexe sollte ein gebrochenes Bein davon erleiden, doch wussten die beiden in diesem Moment noch nicht, dass es keine Wurzel war, sondern die eigene Mutter. Erst als das Paar auf dem Feld angekommen war, erklärte die junge Frau, was sich gestern Nacht ereignet hatte. Jetzt war er froh, dass sie ihn begleitet hatte und die Wurzeln ausschlug. Auch wenn er die ganze Geschichte nicht so recht glauben wollte, bewies es ihm doch die Liebe seiner getreuen Frau.

Umso erstaunter war er, als er abends beim heimkommen seine Mutter leidend im Bett liegen sah: „Ja, was fehlt dir denn?“, fragte er und blickte erschrocken in die Augen seiner Frau. Die Alte antwortete nicht und stellte sich schlafend. Doch die beiden Jungen gaben nicht nach bis sie schließlich zugab, sich ein Bein gebrochen zu haben. Der Sohn war kreidebleich geworden. Die Schwiegertochter jedoch fügte eindringend hinzu: „Und wie ist dir das passiert?“

Das wagst du noch zu fragen“, stieß die Hexe aus, „du warst es doch, du hast mir das angetan!“

Hatte ich also guten Grund, mich vor dir in Acht zu nehmen“, erwiderte aufgeregt die junge Frau. „Ich weiß alles! Ich habe euch belauscht. Ich saß nämlich im Nussbaum als du und dein Hexengesindel unten Rat hielten.“

Einige Tage später starb die Hexe. Ihre Verletzungen hatten sich arg entzündet.

Doch während dieser Tage erkrankte auch der Königssohn. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich stündlich und die Ärzte waren ratlos. Schließlich versprach der König demjenigen eine überaus stattliche Belohnung, der seinen Sohn heilen könnte.

So begab sich die Schwiegertochter der alten Hexe in den Wald und sammelte die Kräuter, welche der Hexenmeister genannt hatte. Daraus braute sie eine Arznei, welche sie zum Palast trug und bat, das Königskind behandeln zu dürfen. Das Mittel erfüllte seinen Zweck und binnen weniger Stunden war der Heilungsprozess eingeleitet und nach einer Woche war das Kind wieder völlig gesund. Der König wollte die Wohltäterin künftig in der Nähe seines Schlosses wissen und gab ihr deshalb nicht nur die versprochene, reichliche Belohnung, sondern ihr und ihrem Mann auch eine Stellung am Hofe.



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